Melissa Joos vom TV Echterdingen ist die einzige Schiedsrichterin im Raum Stuttgart, die Bundesligaspiele der Frauen pfeift. Auch bei Spielen der Champions League oder WM-Qualifikationsspielen ist sie im Einsatz. Dafür opfert die Elektroingenieurin ihren kompletten Jahresurlaub.
Leinfelden-Echterdingen. Melissa Joos wird nie einen Titel oder eine Olympiamedaille gewinnen. Für sie läuft es am allerbesten, wenn niemand über sie und ihre Arbeit spricht, denn das bedeutet, dass sie alles richtig gemacht hat. „Wenn man Aufmerksamkeit möchte, muss man Spieler werden“, sagt die 30-Jährige.
Als Spielerin hatte auch Melissa Joos’ Fußballkarriere einst begonnen: Als sie 13 Jahre alt war, nahm eine Freundin sie mit zu einer samstäglichen Spaßtruppe des TV Echterdingen . „Mädelsfußball gab es damals in Echterdingen noch nicht“, sagt sie. Später spielte sie auch für die Damenmannschaft, doch sie vermisste bei ihren Teamkolleginnen den richtigen Biss. „Meiner Mannschaft war die dritte Halbzeit immer wichtiger“, sagt sie. „Das war für mich uninteressant. Wenn ich was mache, dann zu 100 Prozent.“
Der Wechsel zur Schiedsrichterei war für Melissa Joos deshalb kein Plan B, sondern der Plan A. „Es hat mir unheimlich viel Spaß gemacht. Ich konnte mein Ding machen.“ Die Idee dazu war gekommen, nachdem sie 2006 bei einer Sportmesse angesprochen worden war, ob sie nicht Lust hätte, den Job an der Pfeife mal auszuprobieren. Dann ging es ganz schnell: Nach einem Theoriekurs, in dem sie die 17 wichtigsten Fußballregeln lernte, stand sie schon kurz darauf in Plattenhardt auf dem Rasen und pfiff ein Spiel gegen Hoffeld in der Bezirksstaffel. 14 Jahre war sie damals alt. Wie das war? „Fürchterlich“, sagt sie und lacht. „Ich war maximal überfordert.“ Zum Glück habe es niemand krumm genommen. Mit dem Trainer von damals lache sie heute noch über den Einsatz.
Doch Melissa Joos wurde immer besser und stieg am Ende jeder Saison in die nächst höhere Liga auf. „Ich war in Stuttgart die einzige, die was erreichen wollte“, sagt sie. Heute ist sie eine der erfolgreichsten Schiedsrichterinnen in Deutschland. Sie pfeift Spiele der Frauen-Bundesliga und Herrenspiele bis zur Oberliga. International wird sie bei Champions-League- und WM-Qualifikationsspielen eingesetzt, als Fifa-Assistentin an der Linie und bei den Herren als Assistentin bis zur Regionalliga, bald womöglich auch in der 3. Liga. Kürzlich durfte sie in der zweiten Runde des DFB-Pokals Ingolstadt gegen Bayern München pfeifen. Im großen Stadion habe sie gedacht: „Was macht die kleine Melissa hier mitten auf dem Platz?“, sagt sie und lacht. „Es ist toll, was man mit seinem Hobby erleben darf. Als Spielerin hätte ich das nie geschafft.“
Um dort stehen zu können, braucht es eine Menge Disziplin und sportlichen Ehrgeiz. Schon vor der Arbeit stehen anderthalb Stunden Sport auf dem Programm. „Ich trainiere schon morgens, dann ist es nicht so schlimm, wenn ich nicht pünktlich aus dem Büro komme“, sagt sie. Ein Fitnesscoach des DFB schickt ihr individuelle Trainingspläne. „Heute morgen waren Kraft und Stabi dran“, sagt sie, und meint mit Blick aus dem verregneten Fenster: „Das war mir bei dem Wetter nicht unrecht.“ Sonst geht sie oft zum Sportgelände ihres Heimatvereins und sprintet dort übers Fußballfeld. Sie trainiert kaum weniger fleißig als die Spielerinnen selbst, und das mit guten Grund. Es seien gerne zehn, zwölf Kilometer Laufarbeit in einem Spiel. „Ob sich das Training gelohnt hat, sehe ich, wenn in der 90. Minute ein Konter kommt“, sagt sie und lacht. Aber fehlt ihr nicht eine Mannschaft um sie herum? Melissa Joos schüttelt den Kopf. „Wir als Schiedsrichterei sind eine große Familie.“ Bei Spielen seien sie immer zu dritt oder viert unterwegs und eine feste Gemeinschaft.
Am liebsten ist die 30-Jährige nicht als Schiedsrichterin, sondern als Assistentin eingeteilt. Dann beobachtet sie von der Seitenlinie aus und fällt Abseitsentscheidungen. Ihr gefalle die Art der Fokussierung. „Man trifft zum Teil kniffeligere Entscheidungen.“ Und es mache ihr unheimlich viel Spaß, „den in der Mitte zu supporten“.
Als welchen Typ Schiri würde sie sich selbst beschreiben? „Fair und berechenbar“, sagt sie. Die Spieler würden wissen: Bis zu einer bestimmten Linie können sie gehen, weiter nicht. „Ich lasse gerne viel laufen und versuche, sie Fußball spielen zu lassen. Aber wenn es was zu sanktionieren gibt, bin ich rigoros. Wenn es unfair wird, dann gehen nur noch Farben.“ Inzwischen habe sie so viel Erfahrung, dass sie schnell die verschiedenen Spielertypen erkenne und Schauspielerei oder seltsame Fallmuster entlarven könne. Was den Schiedsrichterjob ausmache, sei letztlich eine Mischung aus Erfahrung, Gespür, Konzentration, Sprintfähigkeit und der Antizipation, wohin der Ball als nächstes gespielt wird. Dass man für seine Entscheidung hinstehen und sie durchsetzen müsse, „das formt die Persönlichkeit ganz ordentlich“. Ob sie Frauen oder Männer pfeife, sei dabei egal. Allen sei wichtig, dass sie eine berechenbare Linie vorgebe. Blöde Sprüche habe sie nie anhören müssen. Als Frau ein Herrenspiel zu pfeifen, sei in den Ligen, in denen sie eingesetzt werde, etabliert.
Für ihre Karriere hat sie ein klares Ziel: mehr internationale Spiele. Ihr Traum: „Bei der Endrunde der WM 2027 dabei zu sein. Das wäre der absolute Hammer.“